Was hinter der hohen Sterblichkeit bei der künstlichen Beatmung steckt

Stand: 24.08.2021 12:26 Uhr | Lesedauer: 5 Minuten

Von Elke Bodderas
Verantwortliche Redakteurin

In Deutschland haben nur knapp 30 Prozent der Corona-Patienten, die mit künstlicher Lunge beatmet wurden, überlebt. In anderen Ländern lief es deutlich besser. Hierzulande fehlt es vielerorts an Expertise beim Personal. Welche Rolle spielen finanzielle Interessen? Was lief falsch auf deutschen Intensivstationen?
Quelle: Getty Images; Montage: Infografik WELT/Jörn Baumgarten

Von allem das Beste. Und vom Allerbesten das meiste. Kein Land auf der Welt ging mit einem derart luxuriösen Bestand an Beatmungsgeräten in die Pandemie wie Deutschland. Ein Gerätepark, international beneidet, dazu eine Ärzteschaft, zahlreich und bestens ausgebildet. Und doch: Ernüchterung.

Jetzt, da das große Wettrennen um Leben und Tod in den Krankenhäusern allmählich ausläuft, stehen die Deutschen betreten vor einer brisanten Bilanz. Es stellt sich heraus, dass die Bundesregierung zwar finanziell und technisch geklotzt hat. Dennoch stehen schwächer ausgerüstete Länder wie Frankreich oder Großbritannien bei den Behandlungserfolgen besser da als Deutschland - wenn es um die Intensivpatienten geht, die maschinell künstlich beatmet wurden.

Nur knapp 30 Prozent der Corona-Patienten haben in Deutschland während der ersten beiden Wellen den Einsatz der künstlichen Lunge überlebt, 73 Prozent haben es nicht geschafft. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die unter anderen der deutsche Intensivmediziner Christian Karagiannidis verfasst hat. In Ländern wie Großbritannien oder Frankreich lag die durchschnittliche Sterblichkeit bei lediglich 37 Prozent.

Bis zu 200.000 Euro. Pro Patient

Die maschinelle Beatmung per künstlicher Lunge gilt als letztes Mittel. Sie kommt erst dann ins Spiel, wenn alle anderen intensivmedizinischen Methoden ausgeschöpft sind. Die Maschine, kaum größer als ein Werkzeugkoffer, funktioniert als Lungenersatz, das Blut wird außerhalb des Körpers maschinell mit Sauerstoff angereichert. Durch Schläuche in den Leisten fließt das Blut in die Maschine und wieder zurück. Das Verfahren ist noch jung, etwa zehn bis 15 Jahre alt, und es birgt Risiken.

Weil viele kleine Krankenhäuser die "extrakorporale Membranoxygenierung", kurz Ecmo, nicht komplett beherrschen, galt vor der Corona-Pandemie die Leitlinie, dass Kliniken mindestens auf Erfahrungen mit 20 Ecmo-Patienten im Jahr kommen müssen, um diese Therapie anbieten zu dürfen. Doch damit scheint man es während der Pandemie nicht so besonders genau genommen zu haben.

"Die hohe Sterblichkeit ist deprimierend", sagt Karagiannidis, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin und Leiter des Ecmo-Zentrums der Universitätsklinik in Köln. Gemeinsam mit Kollegen hat Karagiannidis mehr als 700 Ecmo-Behandlungen aus den Patientendaten der AOK in den ersten beiden Wellen der Pandemie analysiert. Die Studie ist im "American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine" publiziert, eine detailliertere Auswertung aller Covid-Intensivpatienten in Deutschland ist in Vorbereitung.

Sind deutsche Ärzte schlechter als ihre Kollegen in anderen Ländern? Schon eine Untersuchung 2016 war zu ähnlich deprimierenden Ergebnissen gekommen.

"2016 hatten wir den Eindruck, dass ein Teil der Behandlungen ökonomisch getrieben sein könnte", sagt Karagiannidis, "in einigen Krankenhäusern hat das sicherlich eine Rolle gespielt." Immerhin seien pro Patient schnell zwischen 50.000 und 200.000 Euro fällig. An finanzielle Interessen während der Pandemie glaubt er allerdings nicht.

Auch der Spitzenverband der Krankenhausträger sieht in Deutschland keine Anzeichen für den Versuch, während der Pandemie die Erlöse zu steigern. "Der Vorwurf, Ärzte hätten gerade in der ersten Welle Ecmo aus finanziellen Gründen eingesetzt, ist schwer zu ertragen", teilt die Deutsche Krankenhausgesellschaft auf Anfrage mit. Sie räumt aber ein, dass vor allem in der Anfangszeit "mit bestem Wissen und nach Stand der medizinischen Erkenntnisse Ecmo eingesetzt worden ist, wo man es heute nicht mehr machen würde".

Karagiannidis sieht das differenzierter. Es habe sich im Lauf der Pandemie eine Situation entwickelt, "dass es mehr und mehr Maschinen gab, für die es sehr viel Expertise braucht und sehr viel Personal. Beides stand nicht flächendeckend zur Verfügung."

In Deutschland bieten 184 Krankenhäuser eine Ecmo-Therapie an, in Großbritannien sind es sechs. "Leicht zu errechnen, wo da das Problem liegt", sagt Karagiannidis und fordert, die deutsche Kliniklandschaft grundlegend umzukrempeln. "In Deutschland und den USA kann jeder diese Geräte einsetzen, auch wenn er kein ausgebildetes Personal dafür hat." Quantität werde vor Qualität gesetzt.

"Solche Therapien dürften nur da angeboten werden, wo es eine hohe Expertise und eine gute Personalausstattung gibt. Das sollte in spezialisierten Zentren geschehen."

Auch Thomas Voshaar, Chefarzt des Krankenhauses Bethanien in Moers und Leiter des Lungenzentrums, warnte früh vor den Risiken der künstlichen Beatmung. Er versucht, sie vor allem durch die reine Sauerstoffgabe und eine Maskenbeatmung zu vermeiden. "Durch die hohe Vergütung gibt es leider einen finanziellen Anreiz für die riskanteren Beatmungsformen per Schlauch oder Ecmo", sagt Voshaar. Er kommt zu anderen Schlüssen als die Mediziner um Karagiannidis.

"Diese Gruppe will eine Supra-Intensivmedizin etablieren, die nur noch von einem elitären Klub betrieben werden kann", sagt Voshaar. Doch das löse nicht das Problem. "In Deutschland wird grundsätzlich zu früh künstlich beatmet."

Ein bestimmter Teil der Intensivmediziner habe immerzu mehr Ecmo-Plätze gefordert, große Summen seien geflossen, sagt Voshaar. "Diese hochgerüstete Intensivmedizin hat nicht dazu geführt, dass wir besser durch die Pandemie gekommen wären als andere Länder. Im Gegenteil: Andere Länder haben weniger Intensivbetten, und die Sterblichkeit ist trotzdem geringer. "

"Ohne positive Effekte für den Patienten"

Der Vorwurf, dass deutsche Intensivmediziner zu viel therapierten, ist nicht neu. Es werde nicht das Nötige gemacht, sondern das technisch Mögliche, heißt es in einem Fachartikel der Medizinischen Universität Wien. So werde etwa ein hoher Prozentsatz von schwer dementen Patienten auf Intensivstationen aufgenommen und künstlich beatmet, "ohne dass dies mit positiven Effekten für den Patienten verbunden ist", schreiben die Autoren Wilfred und Christiane Druml.

"Finanzielle Überlegungen im Hintergrund" hält der Regensburger Intensivmediziner und Medizinethiker Thomas Bein nicht für ausgeschlossen. "Die künstliche Beatmung durch Ecmo oder auch durch den Beatmungsschlauch kann Leben retten, hat aber auch Komplikationspotenzial und kann bei falscher Anwendung Leben gefährden", sagt er. Bei jedem Patienten müsse man sich die Frage stellen: Wird er profitieren? Oder mache man die Therapie nur unter dem Druck, etwas getan zu haben?

Auch der Intensivmediziner Uwe Janssens, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, mahnt zu mehr Augenmaß. "Wir vermeiden in Deutschland jede offene gesellschaftliche Debatte darüber, was wir als Ärzte machen oder besser lassen sollten", sagt er mit Blick auf sehr alte Menschen auf der Intensivstation. In anderen Ländern wie Schweden oder Großbritannien würden sie nur in Einzelfällen mit Ecmo behandelt. "Wir brauchen eine Medizin, die ihre Grenzen erkennt. Aber kein Politiker hat den Mut, das anzusprechen."


Quelle: welt.de